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Die Tradition ist wie ein Baum
Musik von Alexandre Tansman für zwei Klaviere

Die Auseinandersetzung mit Alexandre Tansman und seinem erstaunlichen Schaffen erreicht in der heutigen klassischen Welt oft nur einen bestimmten Punkt, nämlich den anerkennenswerten Einsatz für einen halb Vergessenen. Immer noch gibt es keine wirklich repräsentative Anzahl von Einspielungen und die Texte dazu beschränken sich meist darauf, Tansmans wichtigste biographische Stationen in folgender Art Revue passieren zu lassen: dass er als junger Komponist in den 20er und 30er Jahren eine steile Karriere in Frankreich und weit darüber hinaus hinlegte; dass er im Dritten Reich mit seiner Familie aus Europa fliehen musste; dass er endlich in Kalifornien Fuß fassen konnte, großer Erfolg in Hollywood inklusive; dass er nach Ende des Zweiten Weltkrieges wieder nach Paris übersiedelte, dort aber nicht an seine früheren Erfolge anschließen konnte; dass er schließlich irgendwie in die zweite Reihe geriet und die restlichen 40 Jahre seines Lebens Musik schrieb, die nicht mehr recht in die moderne Ästhetik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts passte.

Dies ungefähr war auch unser Wissensstand, als wir vor ein paar Jahren an das Manuskript von Le Train de nuit gelangten und das Werk probierten. Wir waren sofort begeistert von der witzigen Eisenbahn-Motorik und den weiten Landschaften, die Tansman vor unserem inneren Auge entstehen, vorbeifahren, sich verändern und verschwinden lässt; uns war aber auch klar, dass wir ein komplexes Stück vor uns hatten, das viel Zeit brauchen würde bis zur vollkommenen Balance von gestalterischer Akkuratesse und organischer Spannung – ein großes Werk eben. Unsere Neugierde war geweckt, wir machten uns mit Tansmans Œuvre für Klavierduo vertraut1 und bekamen allmählich einen differenzierteren Standpunkt zu ihm, seinem Leben und seiner Entwicklung. Sicher war er vor dem Zweiten Weltkrieg in Europa en vogue und danach nicht mehr - das hat unserer Ansicht nach aber keinen Einfluß auf die Wertigkeit seiner Kompositionen, in denen eine Ästhetik stilistischer Vielseitigkeit und stetiger Verfeinerung der Mittel unaufhörlich weiterwuchs. Dass er kein Revolutionär war und seinen Platz in der Avantgarde an Messiaen, Boulez, Cage und Ligeti weitergab, sollte kein Kriterium über den Rang seiner Musik darstellen.

Die Werke dieser Aufnahme haben - unabhängig davon, dass sie uns persönlich sehr gefallen - einen Anspruch und eine Qualität, die auf der selben Stufe stehen wie etwa bei Ravel. Im Gegensatz zu diesem ist Tansman aber sehr sparsam in seinen Anmerkungen; viele Entwicklungen in Bezug auf Agogik, Dynamik und Energiezustände, die seine Musik unbedingt braucht, um voll erblühen zu können, schreibt er nicht hin. Er fordert im wahrsten Sinne des Wortes eine Interpretation, eine entschiedene subjektive Auslegung, die in einem reifen muß. Dass er sich dazu einer Notationsweise bedient, die mehr mit der klassischen Epoche gemeinsam hat als mit dem raffinierten Vokabular des 20. Jahrhunderts, ist kein Zufall. Es symbolisiert im Gegenteil sogar das Wesen von Tansmans musikalischem Denken: jedes Werk auf andere Art, aber stets ganz bewußt auf das Fundament der klassischen Tradition zu stellen.

Geboren in Polen, in jüdischer Religion und französischem Geist erzogen, hatte Tansman einen besonders vielseitigen Zugang zur Fülle der musikalischen, philosophischen und humanistischen Kultur Europas. Er glaubte sein Leben lang an die vitale Bedeutung von Tradition für die Kunst: „Die Tradition ist wie ein Baum. Vertrocknete Äste fallen ab, aber es ist gefährlich, den Baum zu entwurzeln. Die Wurzeln müssen bleiben“2. In seiner eigenen Kunst setzte er dementsprechend, und das mit einer geradezu chamäleonhaften Wandlungsfähigkeit und Experimentierfreude, Kompositionstechniken aus verschiedensten Epochen, Kulturen und Stilen ein.

Je länger wir uns mit seinem Klavierwerk beschäftigten, um so deutlicher schien es uns, dass sich Tansmans Stil vor allem durch diese scheinbar mühelose Leichtigkeit seiner mannigfachen Erscheinungsformen definiert und nicht als in sich geschlossene Klangsprache. Gleichzeitig entsteht aber nie der Eindruck von Epigonentum oder gar Beliebigkeit, denn in dieser Musik reichen sich handwerkliche Perfektion, enormer Einfallsreichtum und eine klare künstlerische Idee stets die Hand. Tansmans profunde Beherrschung dermaßen vieler verschiedener Stile und Techniken hat allerdings auch zur Folge, dass es keinen typischen „Tansman-Sound“ gibt, keine eindeutig identifizierbare persönliche trade mark, die sich durch seine Musik zieht - wenn man so will, wurde sein Genius dadurch gleichzeitig zum Bremsklotz für Tansmans Ruhm. Mit dieser Aufnahme hoffen wir, diese beiden Komponenten seiner Musik – Vielfalt und Qualität – in dem hohen Niveau abbilden zu können, das auch die folgenden Werke für zwei Klaviere auszeichnet.

Le Train de nuit / Der Nachtzug, geschrieben 1951, ist eine Ballettmusik für das Folkwang Tanztheater von Kurt Jooss. Jooss, der „Vater des Deutschen Tanztheaters“, kannte und schätzte Tansman bereits von der Zusammenarbeit für La Grande Ville und wählte ihn wieder als Komponisten für ein neues Projekt, in dem es um die Träume von zwei Passagieren während einer nächtlichen Zugfahrt gehen sollte. Tansman reagierte mit diesem großformatigen Stück, in seinem virtuosen Zuschnitt und seinen interpretatorischen Möglichkeiten ein echtes konzertantes Klavierwerk unabhängig von einer tänzerischen Umsetzung (ähnlich wie bei Ravels „La Valse“). Le Train de nuit entwickelt sich in zwei Ebenen: die Realität wird abgebildet durch eine große Bandbreite an Zuggeräuschen, die Träume durch einen Walzer und einen Tango. Im letzten Drittel verdichtet sich das Spektrum durch eine Vermischung dieser Themen, durch zusätzliche neue Ideen und eine hohe energetische Beschleunigung - bis die Träumer auf einmal aufwachen und feststellen, dass der Zug gerade zum Stehen kommt.

Im Kontrast zu dieser freien rhapsodischen Form steht die Strenge der Sonate für zwei Klaviere.
1940 in Nizza komponiert, wo Tansman und seine Familie sich als jüdische Exilanten ein Jahr lang vor den Nazis und der Vichy-Regierung unter kümmerlichsten Bedingungen verstecken und auf Gelegenheit zur Flucht warten mussten, spiegelt sie nicht zuletzt die Schrecken des Zweiten Weltkriegs wider. Eine äußerlich spätklassische viersätzige Struktur (Sonatenhauptsatzform / langsamer Satz / Scherzo / Finale mit Fuge) bietet den Rahmen für die dramaturgische Entwicklung, in der jeder Satz ein autarkes Klanggewand erhält. So ist der Kopfsatz in fast seriellem Duktus abgefaßt; seine Düsterkeit, Enge und Qual ereignen sich dadurch in einem striktem System, dessen durchgeplantes Entfalten etwas Hartes, Unausweichliches hat. Der langsame zweite Satz, ein expressionistisches Adagio, befreit sich zwar mit wenigen, frei schwingenden Tönen aus diesen strukturellen Fesseln, findet aber auf seiner Suche zwischen Dunkelheit und Licht keine eindeutige Lösung. Im Presto führt Tansman eine radikale Klavier-Dualität ein, die schon György Ligetis Drei Stücke für zwei Klaviere (die 1976 entstanden sind) vorauszunehmen scheint: konsequent im Halbtonabstand gegeneinander geführt, eilen die beiden Klaviere in einem bitonalen Perpetuum mobile am Hörer vorbei. Der Schlußsatz bringt diese kinetische Energie erst zum Erstarren und leitet sie dann in eine klar am barocken Modell orientierten Fuge um, in der Tansman noch einmal demonstriert, welch unnachgiebige Kraft eine starre Ordnung entfalten kann.

La Grande Ville, Tansmans Musik zur „Großstadt“, einer Ballettproduktion des Deutschen Tanztheaters, wurde 1935 komponiert und hat eine komplexe Entstehungsgeschichte; interessant ist dabei vor allem der Kontrast zwischen Musik und Choreographie. Die Handlung auf der Bühne schildert das allmähliche Scheitern einer Liebe, die Musik liefert dazu das von solchen Dingen unbeeindruckte „le jazz hot“ - Gefühl der 30er Jahre. La Rue: ein junger Mann tanzt mit seiner Freundin im Straßengewühl, das Mädchen zieht die Aufmerksamkeit eines reichen Casanovas auf sich. Cité ouvriére: in den Arbeiterquartieren treffen sich der Casanova und das Mädchen. Er macht ihr ein glitzerndes Kleid zum Geschenk, sie ist hingerissen - die Verführung ist gelungen, der junge Mann vergessen. Dancing: in der Charleston-Hektik eines Nachtclubs tanzt das Mädchen mit ihrem Verführer, parallel dazu sucht sie der junge Mann vergeblich in einem Straßencafé, findet sie nicht und tröstet sich schließlich walzertanzend mit einer anderen Frau. Die Szenerie spielt parallel an diesen beiden Orten (von Tansman genial umgesetzt: Klavier I spielt Charleston im Vier-Viertel-Takt, Klavier II Walzer im Drei-Viertel-Takt); das Mädchen, immer mehr bedrängt, flieht schließlich aus den gierigen Klauen des Verführers in die Nacht, der junge Mann bleibt, auch von der anderen verlassen, im Café zurück, „une figure humaine seule et désolée dans l'inhumanité de la Grande Ville“.3

Mit der Fantaisie sur les valses de Johann Strauss betreten wir schließlich das Reich der Salonmusik. Kaum verfremdet, zitiert Tansman eine ganze Palette an populären Strauss-Themen, kombiniert sie miteinander und setzt sie in fortlaufender Steigerung zu einer langen Walzerkette zusammen. Was für ein Klavierwerk des Jahres 1961 anachronistisch erscheint, bezieht seinen Wert einerseits aus dem liebevollen Charme, mit dem die romantische Vorlage behandelt wird, und andererseits aus der persönlichen Bedeutung für den Komponisten. Bei aller Walzernostalgie ging Tansman nämlich auch mit diesem Stück in seinem kompositorisches Vokabular einen Schritt nach vorne, konkret: er führt einen neuen Polychord ein, der viele seiner symphonischen Werke der folgenden Jahre prägen sollte, den (tatsächlich so genannten) „Tansmanischen Akkord“: eine Schichtung von C-Dur, As-Dur mit hinzugefügter Septe und der Doppelquarte b-e-a, die sich über sechs Oktaven spannt und daher nur im Orchester oder eben an zwei Klavieren ausführbar ist. Im pianissimo empfinden wir diesen Akkord als zögerndes Schweben, im fortissimo wirkt er triumphal – Tansman setzt ihn hier in beiden Varianten ein.

So orientiert sich das jüngste Werk dieser Aufnahme zwar am stärksten an der Vergangenheit, besitzt aber gleichzeitig das modernste Element. Um auf Tansmans eigenes Bild zurückzugreifen: der tief verwurzelte Baum seiner Musik wuchs auch in seinem siebten Lebensjahrzehnt immer weiter. Zu erfahren, dass diese Metapher nicht nur seine Kunst, sondern überhaupt seine Lebenseinstellung zusammenfasst, hat unsere Auseinandersetzung mit Tansman auf denkbar schönste Weise abgerundet — wir danken Mireille Tansman Zanuttini und Marianne Tansman Martinozzi für die herzliche Korrespondenz, die uns einen tiefen Einblick in das Leben und Denken ihres Vaters gewährt hat. Das letzte Wort sei Alexandre Tansman selbst überlassen, diesem vornehmen, aus der Fülle schöpfenden, großen Komponisten, der anläßlich seines 70. Geburtstages auf die Frage, ob er sich denn alt fühle, antwortete: „Künstler unserer Generation haben sich mit so vielem beschäftigt, das sie aber weiter nicht groß erwähnt haben, mit Malerei, Literatur, Philosophie... selbst wenn das Alter kommt, erfahren wir dadurch immer eine Bereicherung und können letztlich mit Befriedigung zurückblicken. Und nach vorne.“

Lucia Huang & Sebastian Euler



1Dabei wurde uns erst bewußt, wie viel Tansman für Klavierduo geschrieben hat. Uns ist kein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts bekannt, der mehr für dieses Genre geschaffen hätte.
2Tadeusz Kaczyński, "Conversation with Aleksander Tansman," 1974
3Übs: eine menschliche Silhouette, einsam und unglücklich inmitten der Unmenschlichkeit der Großstadt