Schönere Welten
Die C-Dur-Sonate D 812 entstand im Sommer 1824, als Franz Schubert auf dem ungarischen Schloß Zseliz als Musiklehrer der beiden Töchter von Graf Esterhazy angestellt war. Zu diesem Zeitpunkt kam Schubert allmählich aus einer schweren Krise heraus: er hatte eben eine längere Therapie gegen die Syphilis abgeschlossen, aus der er erschöpft und bei weitem nicht gesund hervorgegangen war. Auch von anderen Rückschlägen war er nicht verschont geblieben: die Mühen des Tagesgeschäfts als freiberuflicher Komponist, Streitereien mit Verlegern, Mißerfolg mit seiner Oper „Rosamunde“, die in Wien gnadenlos durchgefallen war und Zerrüttungen innerhalb des ihm so wichtigen Freundeskreises. Wie wir Schuberts Aufzeichnungen entnehmen, lösten all diese Ereignisse einen psychischen Prozeß aus, der zwar viele trübe Gedanken mit sich brachte, ihn letztlich aber in seiner Entwicklung einen wichtigen Schritt weiterführte. So schrieb er am 18. Juli 1824 an seinen Bruder Ferdinand: „Damit Dich diese Zeilen nicht vielleicht verführen, zu glauben, ich sey nicht wohl, oder nicht heiteren Gemüthes, so beeile ich mich, Dich des Gegentheils zu versichern. Freylich ists nicht mehr jene glückliche Zeit, in der uns jeder Gegenstand mit einer jugendlichen Glorie umgeben scheint, sondern jenes fatale Erkennen einer miserablen Wirklichkeit, die ich mir durch meine Phantasie (Gott sey's gedankt) so viel als möglich zu verschönern suche. Man glaubt an dem Orte, wo man einst glücklicher war, hänge das Glück, (...) doch bin ich jetzt mehr im Stande Glück und Ruhe in mir selbst zu finden als damals. Als Beweis dessen werden Dir eine große Sonate und Variationen über ein selbst erfundenes Thema1, beides zu 4 Hände, welche ich bereits componiert habe, dienen.“
Sicher war Schuberts Innenleben hauptsächlich ausschlaggebend, daß diese Sonate in der Tat groß geworden ist, allerdings dürfte ein bedeutsames Ereignis im Mai 1824 ebenfalls seine Spuren hinterlassen haben: die Uraufführung von Beethovens 9. Symphonie in Wien, bei der Schubert anwesend war. Dieses Monument, mit dem Beethoven ein weiteres Mal demonstrierte, welches Potential die altvertraute klassische Sonatenform immer noch besaß, mußte Schubert unwillkürlich bei der Arbeit an seiner C-Dur-Sonate beeinflussen. Was vielleicht auch Robert Schumann gespürt haben mag, der Jahre nach Schuberts Tod die Noten entdeckte und die Sonate kurzerhand zum Klavierauszug einer nie orchestrierten Symphonie erklärte: „Wer so viel schreibt wie Schubert, macht mit Titeln am Ende nicht viel Federlesens, und so überschrieb er sein Werk in der Eile vielleicht Sonate, während es als Symphonie in seinem Kopfe fertig stand.“
Es ist eine interessante Frage, wie der glühende Schubert-Verehrer Schumann zu solch einer kapitalen Fehleinschätzung gelangen konnte. Vermutlich, weil Schubert mit diesem Werk eine extrem hohe Kultur des vierhändigen Klavierspiels einfordert, die damals schlicht nicht üblich war. Vergleichen wir die C-Dur-Sonate mit seinen bisherigen Duowerken, so fällt ihre Ausnahmestellung deutlich auf: die klangliche Machbarkeit dieser Musik auf einem Klavier ist, mit Ausnahme des qirlig-pianistischen Finales, völlig unwesentlich geworden angesichts ihrer epischen Größe. Nimmt man das „Grand Duo“ als visionäres Klavierwerk ernst, so braucht es zu seiner geistigen und technischen Bewältigung mehr als nur Zeit und technische Genauigkeit. Beide Spieler müssen eine hohe Beherrschung des Instruments, enormen Klangsinn, viel Fantasie und ein gezügeltes Ego mitbringen, um dem starken Verschmelzungsgrad der beiden Stimmen gerecht zu werden – und das erschien zu jener Zeit offenbar selbst Robert Schumann unrealistisch.
Anders verhält es sich mit dem Rondo in A-Dur D 951, das bezeichnenderweise der Verleger Domenico Artaria bei Schubert bestellt hat. Es ist viel pianistischer gesetzt und stellt auch nicht den Anspruch, über die Natur seines Instruments hinausweisen zu wollen. Das Rondo ist Schuberts letztes vierhändiges Klavierstück – Artaria gab es im Juni 1828 in Auftrag und veröffentlichte es im Dezember, nur einen Monat nach dem Tod des Komponisten.
Wenn wir dieses Werk in Zusammenhang zu Schuberts Biographie stellen, sollten wir eines immer im Auge behalten: trotz alles posthumer Legendenbildung war in keiner Weise zu erwarten, daß er dermaßen früh sterben würde. Im Gegenteil war 1828 sogar ein außerordentlich erfolgreiches Jahr: im März gab Schubert in Wien ein vielbeachtetes, ausverkauftes Konzert, das ihm neben hoher öffentlicher Anerkennung auch genug Geld einbrachte, um sämtliche Schulden zu tilgen. Seine Produktivität war immens und kaum mit dem Gesundheitszustand eines auf dem Totenbett Dahinsiechenden zu vereinbaren. Im Oktober fühlte er sich sogar fit genug, eine Reise nach Eisenstadt anzutreten, und erst nach seiner Rückkehr befiel ihn der Bauchtyphus, der ihn dann sehr schnell dahinraffen sollte.
Rational betrachtet, mußte Schubert zu der Zeit, als er das Rondo schrieb, also kaum befürchten, daß er seinen 32. Geburtstag nicht mehr erleben sollte. Daß ihm der Gedanke an den Tod aber schon ein stetiger Begleiter war, ist in fast allen Werken seiner letzten Jahre so deutlich zu spüren wie bei keinem anderen Komponisten, und düstere Melancholie ist ein ganz wesentliches Kennzeichen des späten Schubert. Beim A-Dur-Rondo allerdings gibt es sie nicht: es beginnt ganz schlicht mit einem volksliedhaften Thema, das frei dahinfließt, in warmen naturhaften Farben mäandert, sich in seinen vielen Wiederholungen vertieft und noch lange im Hörer nachklingt. Diese Musik strahlt eine seltene lyrische Gelassenheit aus und schenkt uns innere Ruhe. Sollte Franz Schubert hier tatsächlich an den Tod gedacht haben? Wenn ja, so dürfte er im Geiste wohl eher schon bei dem Unsagbaren gewesen sein, was danach kommen mag.
Henri Ducard
1 gemeint sind die As-Dur-Variationen D 813