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Anna und die Brahms-Sonate

Es ist meines Wissens das erste Mal, dass sich auf einer CD die beiden Kammermusikstücke Opus 34 und 34 b von Johannes Brahms vereint finden: Sein einziges Klavierquintett und die Sonate für zwei Klaviere. Zuvor waren beide Werke in einem Konzert mit dem Pianistenduo Lucia Huong und Sebastian Euler (Duo d’Accord) sowie dem Hába Quartett des hr-Sinfonieorchesters auf dem Barockschloss Fasanerie bei Fulda zu hören gewesen. Mit dieser eher ungewöhnlichen Programmkombination hatte sich für mich ein lang gehegter Wunsch erfüllt, einmal die beiden Werke, die Brahms der Prinzessin Anna von Hessen (meiner Urgrossmutter) gewidmet hat, an einem Abend gespielt zu hören: die Sonate für zwei Klaviere in f-Moll und das daraus hervorgegangene Klavierquintett, um nachzuempfinden, wie der Komponist durch eine raffinierte Uminstrumentierung den Klangreiz seiner Komposition steigerte, die er im Übrigen kaum veränderte.

Die junge Brahms-Verehrerin, der die beiden Stücke gewidmet sind, war selbst eine begabte Pianistin. Anna, eine Nichte König Wilhelms I. von Preussen, hätte eigentlich an der Seite ihres Mannes Kurfürstin von Hessen werden sollen. Aber als ihr Vaterland 1866 ausgerechnet das Vaterland ihres Mannes annektierte, war es mit dieser Zukunft vorbei. Umso wichtiger blieb für Anna die Musik. Doch für eine Frau ihres Standes gab es außerhalb der Privatsphäre kaum eine Möglichkeit der Selbstentfaltung. Undenkbar etwa als Pianistin öffentlich aufzutreten!

Desto mehr bewunderte sie die Frau, die das erreicht hatte, was ihr selbst versagt blieb: Clara Schumann, die Witwe Robert Schumanns, war seit ihrem ersten öffentlichen Auftreten im Alter von neun Jahren ein Phänomen im von Männern beherrschten Musikleben ihrer Zeit. Als einsame Star-Pianistin wusste sie ihren Platz neben Klavierlöwen wie Chopin, Liszt und Anton Rubinstein zu behaupten. In den Konzertsälen Europas half sie, das Klavierwerk ihres Mannes und, nach dessen Tod, das des vierzehn Jahre jüngeren Johannes Brahms durchzusetzen.

Im Sommer 1864 stellte Clara Schumann der mit ihr befreundeten Prinzessin Anna in Baden-Baden den 31-jährigen, noch verhältnismäßig unbekannten Johannes Brahms vor. Und bald darauf spielten Clara Schumann und Brahms Anna seine Sonate für zwei Klaviere vor. Seit zwei Jahren rang der Komponist um die endgültige Gestalt dieses Musikstücks. Ursprünglich als Streichquintett konzipiert, hatte er es auf den Rat seines Freundes, des Geigers Joseph Joachim, der fehlenden Klangreiz daran bemängelte, für zwei Klaviere umgeschrieben. Dabei mutete Brahms allerdings den Interpreten technisch das Äußerste zu. Sogar die versierte Clara Schumann beklagte sich beim Komponisten: "Du irrst, wenn Du meinst, ich würde mich nicht damit abgequält haben – im Gegenteil, ich habe mich ein paar Tage ganz schwindlich damit gemacht." Es sei eigentlich gar keine Sonate sondern eine Sinfonie. Man habe am Ende das Gefühl, "eine große tragische Geschichte gelesen" zu haben.

Und diese Geschichte hatte die 28-jährige Anna so gepackt, dass sie die Interpreten in den folgenden Tagen bestürmte, ihr die Sonate immer wieder vorzuspielen. Und dann kommt die Überraschung – die eigentlich keine ist, weil Annas zielstrebige Begeisterung dem Komponisten gar keine Wahl gelassen hatte. "Liebste Frau Schumann!", schrieb sie im Oktober '64, "ich bin doch gar zu froh über Ihre Mitteilung, dass die Sonate mein sein soll! […] Wie hätte ich das geahnt, dass mir diese Auszeichnung zu Teil würde, dies schöne Werk, das mich begeisterte, zu besitzen. […] Eigentlich bin ich ganz beschämt."

Wie sollte die Beschämte sich nun für das Geschenk angemessen bedanken? Die Freundin gab ihr den Wink: Ein Offenbacher Verleger suche einen Käufer für das Autograph von Mozarts großer g-Moll-Sinfonie. Ohne zu zögern, kauft Anna die Original-Partitur und übersendet sie Brahms nach Wien. Brahms freute sich über das fürstliche Geschenk. Doch zu Annas großer Enttäuschung sollte sich der Druck der Sonate verzögern. In den 1860er Jahren galt Brahms-Musik noch als gewöhnungsbedürftig. Der renommierte Musikverlag Breitkopf & Härtel lehnte den Druck ab, weil er nur "leicht spielbare Werke" verlegen wollte.

Inzwischen schrieb Brahms das Werk zum dritten Mal um, indem er den Klavierpart mit einem Streichquartett konfrontierte. Dieses Klavierquintett erschien zum Ende 1865 unter der Bezeichnung Opus 34 beim Schweizer Verleger Rieter-Biedermann im Druck und wurde auf Anhieb ein großer Erfolg. Der Dirigent Hermann Levi nannte es "ein Meisterwerk von Kammermusik", wie man es seit Beethoven und Schubert nicht mehr gehört habe.

Im Frühjahr 1866 war die Überraschung perfekt, als Brahms plötzlich in Baden-Baden mit vier Streichern vom Karlsruher Opernorchester auftauchte, um Anna sein Quintett vorzuspielen. Überwältigt schrieb sie an Clara Schumann: "Brahms war so liebenswürdig und wiederholte das Quintett sogar zweimal […], worin man lauter neue Schönheiten entdeckt. Jetzt bin ich kuriert von meinem Misstrauen, es sei in dieser Form, als Quintett, minder schön – nun bin ich erst recht eigentlich stolz!" Sie hatte auch allen Grund stolz zu sein, denn beide, Sonate und Quintett, tragen auf dem Titelblatt die Widmung "der Frau Prinzessin Anna von Hessen gewidmet von Johannes Brahms".

Rainer von Hessen ©2016



N.B. Das Manuskript befindet sich heute im Familienarchiv des Hauses Hessen auf Schloss Fasanerie, dem ehemaligen Sommerwohnsitz der Landgräfin Anna.
Der Briefwechsel mit Clara Schumann wurde herausgegeben von Annegret Rosenmüller: Briefwechsel Clara Schumanns mit Landgräfin Anna von Hessen, Marie von Oriola und anderen Angehörigen deutscher Adelshäuser, in: Robert-Schumann-Haus Zwickau (Hg.): Schumann Briefedition, Serie II, Freundes- und Künstlerbriefwechsel, Band 12, Köln 2015.